Aussetzung des Strafverfahrens bis zum Abschluss des Besteuerungsverfahrens
Nach § 396 Abs. 1 AO kann ein Steuerstrafverfahren ausgesetzt werden, bis das Besteuerungsverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist, wenn die Beurteilung der Tat als Steuerhinterziehung davon abhängt, ob ein Steueranspruch besteht, ob Steuern verkürzt oder ob nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt sind. Das Strafverfahren ruht. Eine Aussetzung nach § 396 Abs. 1 AO kommt nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass es für eine abschließende strafrechtliche Entscheidung allein auf die steuerrechtlichen Vorfragen ankommt. Mit anderen Worten besteht ein Aussetzungsgrund in einer bislang ungeklärten – für den zugrundeliegenden strafrechtlichen Fall entscheidungserheblichen – steuerrechtlichen Fragestellung.
Die Entscheidungen im Strafverfahren sind grundsätzlich unabhängig vom Besteuerungsverfahren. Vor diesem Hintergrund besteht bei Strafverfahren, die zeitgleich mit dem Besteuerungsverfahren durchgeführt werden, die Gefahr von divergierenden Ergebnissen. Es ist denkbar, dass ein Strafgericht einen steuerlichen Sachverhalt abweichend von einem Finanzgericht beurteilt und es ggf. sogar zu einer Verurteilung kommt, obwohl ein sachnäheres Gericht die Verwirklichung eines steuerlichen Sachverhalts verneint.
Der BGH hat sich in seinem Beschluss 1 StR 116/23 vom 10.8.2023 zu den Voraussetzungen für eine Aussetzung nach dieser Vorschrift geäußert.
Sachverhalt:
Mehrere Angeklagte wurden vor dem LG Bonn wegen Steuerhinterziehung verurteilt. In dem Revisionsverfahren beim BGH beantragen die Angeklagten, das Verfahren bis zum Abschluss des Besteuerungsverfahrens nach § 396 Abs. 1 AO auszusetzen. Die Angeklagten haben vorgetragen, dass zu den wesentlichen steuerlichen Fragen, die für das Vorliegen einer Verkürzung von Körperschaft- und Gewerbesteuer bedeutsam sind, wenn eine ausländische Kapitalgesellschaft den Ort ihrer Geschäftsleitung im Inland hat, noch Zweifel bestehen.
Entscheidungsgründe:
Der BGH hat den Anträgen der Angeklagten nicht stattgegeben und das Revisionsverfahren nicht ausgesetzt. Die Aussetzungsentscheidung steht im Ermessen des Gerichts. Abzuwägen sind alle Umstände, die im konkreten Fall für und gegen die Aussetzung des Strafverfahrens sprechen, namentlich das Ziel, im Interesse der Einheitlichkeit der Rspr. und der Rechtssicherheit divergierende Entscheidungen im Straf- und Besteuerungsverfahren möglichst zu vermeiden, und das Gebot zügiger Verfahrensdurchführung. Jedenfalls wenn eine längere Aussetzung erforderlich wäre, gebührt dem in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verankerten Anspruch des Angeklagten auf Entscheidung in angemessener Frist regelmäßig der Vorrang vor dem Interesse an einer einheitlichen Rechtsanwendung; Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK setzt der Zulässigkeit einer Verfahrensaussetzung enge Grenzen. Einen Anspruch auf Aussetzung hat der Angeklagte nicht.
Unter Würdigung dieser Maßstäbe sei die Aussetzung des Verfahrens gem. § 396 Abs. 1 AO nicht angezeigt. Es liege bereits eine Grundsatzentscheidung des BGH zu den wesentlichen steuerlichen Fragen vor. Ferner seien im Wesentlichen Tatfragen entscheidungserheblich und keine schwierigen steuerrechtlichen Vorfragen. Auch die von den Angeklagten geäußerte – abstrakte – Befürchtung, dass es vor dem Hintergrund verschiedener Möglichkeiten der steuerlichen Würdigung zu divergierenden straf- und finanzgerichtlichen Entscheidungen kommen könne, drängt nicht zur Aussetzung des anhängigen Strafverfahrens.
Steuerstrafrechtliche Einordnung:
Durch die Möglichkeit der Aussetzung des Strafverfahrens nach § 396 AO soll die Gefahr divergierender Entscheidungen zwischen Straf- und Finanzgericht vermieden werden. Wie die obigen Entscheidungsgründe zeigen, steht dieses Ziel in einem Spannungsverhältnis zu dem in Art. 6 EMRK verankerten Anspruch des Angeklagten auf eine möglichst zügige Verfahrenserledigung. Regelmäßig werden entsprechende Aussetzungsanträge unter Hinweis auf dieses Gebot häufig abgewiesen. Dennoch sollten Strafverteidiger in geeigneten Fällen – selbstverständlich in Abstimmung mit dem Mandanten – einen Aussetzungsantrag in Betracht ziehen, vgl. Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 396 Rz. 17 ff. (März 2024). In der Praxis wird von der Vorschrift wenig Gebrauch gemacht. Dies kann damit begründet sein, dass der Abschluss des Besteuerungsverfahrens bzw. des finanzgerichtlichen Verfahrens für die Ermittlungsbehörden bzw. die Gerichte häufig nicht absehbar ist. Dies führt dazu, dass im Rahmen der Ermessensentscheidung dem Gebot zügiger Verfahrenserledigung der Vorrang vor dem Interesse an einer einheitlichen Rechtsanwendung eingeräumt wird. So ist es keine Seltenheit, dass bereits das Revisionsgericht mit der Tat befasst ist, während im Besteuerungsverfahren noch nicht einmal eine Einspruchsentscheidung über den aufgrund der Ermittlungsergebnisse geänderten Steuerbescheid ergangen ist, vgl. Jäger in: Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, § 396 AO Rz. 10 (9. Aufl. 2023).