Steuerhinterziehung bei unberechtigter Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens
In einem AdV-Verfahren nach § 69 FGO hat sich das Sächsische FG mit Beschluss 8 V 465/22 vom 28.6.2022 zu der Frage geäußert, ob eine Steuerhinterziehung bei unberechtigter Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens vorliegen kann, wenn der Leistungsempfänger die Steuer entrichtet.
Sachverhalt:
Der Antragsteller war Vorstandsvorsitzender einer tschechischen – mit einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts vergleichbaren – Gesellschaft (im Folgenden „T-AG“) und hielt an dieser 10 % der Aktien. Die T-AG war mit Sitz im Ausland ins tschechische Handelsregister eingetragen. Sie führte für ihre Arbeitnehmer in Tschechien Sozialversicherungsbeiträge ab und besaß eine tschechische USt-IdNr.
Die T-AG erbrachte im Wesentlichen auf deutschen Schlachthöfen subunternehmerische Leistungen. In den Rechnungen an die inländischen Auftraggeber wies die T-AG unter Bezugnahme auf den Übergang der Umsatzsteuerschuld gemäß § 13b UStG auf den Leistungsempfänger keine Umsatzsteuer aus. In den Voranmeldungszeiträumen 2008 bis 2011 meldete die T-AG weder Umsatzsteuer an, noch gab sie Erklärungen ab, in denen die unter das Reverse-Charge-Verfahren vorgeblich fallenden Umsätze gegenüber dem Finanzamt erklärt wurden.
Nach Auffassung der Steuerfahndung befand sich der tatsächliche Sitz der Geschäftsleitung der T-AG in Deutschland. Unter der angegebenen Geschäftsadresse in Tschechien lagen keinerlei Geschäftsunterlagen vor; die Gesellschaft verfügte über keinen Telefonanschluss und keine Website. Das Geschäftskonto unterhielt die T-AG bei einer deutschen Bank, auf das der Großteil der Zahlungen der Auftraggeber einging.
Da die Ausübung der Geschäftsleitung im Inland einen Übergang der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger nach § 13b UStG ausschließt, ging die Steuerfahndung von einer Steuerhinterziehung der T-AG aus. Mit Haftungsbescheid nach § 71 AO nahm das Finanzamt den Antragsteller für Umsatzsteuer der T-AG in den o.g. Veranlagungszeiträumen i.H.v. rd. 1,6 Mio. EUR in Anspruch. Der Antragsteller habe im Haftungszeitraum vorsätzlich gehandelt und mit der T-AG Umsatzsteuer hinterzogen.
Gegen den Haftungsbescheid legte der Antragsteller Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV). Letztere wurde ihm nur gegen Sicherheitsleistung gewährt. Vor dem FG beantragt der Antragsteller AdV ohne Sicherheitsleistung.
Entscheidungsgründe:
Nach Auffassung des Sächsischen FG ist der Antrag auf AdV begründet. Dem Antragsteller ist die Aussetzung der Vollziehung ohne Anordnung einer Sicherheitsleistung zu gewähren. Es ist nach der Aktenlage zweifelhaft, ob der Antragsteller nach § 71 AO für die Umsatzsteuer der T-AG haftet.
Zwar bestätigt das FG die Auffassung des Finanzamts, dass die tatsächliche Geschäftsleitung der T-AG im Inland lag und das Reverse-Charge-Verfahren nach § 13b UStG dementsprechend nicht hätte angewendet werden dürfen. Durch die Nichtabgabe der Umsatzsteuerjahreserklärungen für die betreffenden Veranlagungszeiträume hat der Antragsteller die ihm als Vorstandsvorsitzenden obliegenden Erklärungspflichten verletzt.
Zweifelhaft ist aber, ob der Tatbestand der Steuerhinterziehung gem. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO verwirklicht wurde.
Dazu müsste – objektiv – eine Verkürzung von Umsatzsteuer eingetreten sein. Das FG zieht die Rechtsprechung des BGH zum nicht eingreifenden Kompensationsverbot nach § 370 Abs. 4 Satz 3 AO heran, wonach Vorsteuern bei der Ermittlung der Umsatzsteuerverkürzung zu berücksichtigen sind, wenn ein wirtschaftlicher Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsumsatz gegeben ist, vgl. BGH-Urt. I StR 642/17 v. 13.9.2018. Hieraus schließt der Senat, dass das Kompensationsverbot erst recht nicht greifen darf, wenn die Umsatzsteuern zwar nicht von der T-AG, sondern – zu Unrecht – von den Leistungsempfängern entrichtet wurden und die Umsatzsteuer den Leistungsempfängern wegen eingetretener Festsetzungsverjährung nicht mehr erstattet werden kann.
Zudem hat das FG Bedenken an dem Hinterziehungsvorsatz des Antragstellers. Es gibt keine Feststellungen der Ermittlungsbehörden dazu, dass der Antragsteller zumindest Zweifel an der Unrichtigkeit des Reverse-Charge-Verfahrens gehabt haben könnte. Der Antragsteller als Metzger, der in den Gemeinschaftsunterkünften mit den Arbeitern zusammenwohnte, hatte weder das kaufmännische oder steuerrechtliche Wissen um die Regelung des § 13b UStG vollumfänglich nachzuvollziehen. Nach der Parallelwertung in der Laiensphäre ist eine fehlerhafte Handhabung des Reverse-Charge-Verfahrens nicht augenfällig.
Ferner bezweifelt das FG, dass ein kausaler Steuerausfall durch die unberechtigte Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens entstanden ist. Dieser ist jedoch Voraussetzung für die Haftungsnorm des § 71 AO, der keine Sanktionsnorm ist, sondern Schadensersatzcharakter hat. Die Umsatzsteuer, welche die T-AG hätte abführen müssen, wurde jedoch vom Leistungsempfänger entrichtet.
Steuerstrafrechtliche Einordnung:
Die vorliegende Entscheidung erging zwar in einem AdV-Verfahren betreffend die Haftungsinanspruchnahme nach § 71 AO. Dennoch sind die Ausführungen des Sächsischen FG zum Tatbestand der Steuerhinterziehung für steuerstrafrechtliche Fälle erkenntnisreich und verdienen Zustimmung.
Wenn bei unberechtigter Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens nach § 13b UStG der Leistungsempfänger im Inland die Umsatzsteuer entrichtet, liegt grundsätzlich keine Steuerverkürzung i.S. von § 370 Abs. 1 AO vor. Das Kompensationsverbot des § 370 Abs. 4 Satz 3 AO greift nicht, da ein enger wirtschaftlicher Zusammenhang zwischen Nichterklärung der Umsätze aufgrund der – unberechtigten – Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens und Entrichtung der Umsatzsteuer durch den Leistungsempfänger gegeben ist. Dies aber nur unter dem Vorbehalt, dass die Umsatzsteuer den Leistungsempfängern, etwa wegen der eingetretenen Festsetzungsverjährung, nicht mehr erstattet werden kann.
Im subjektiven Tatbestand ist bei unberechtigter Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens stets auf die Parallelwertung in der Laiensphäre abzustellen und zu fragen, ob zumindest Zweifel an der Unrichtigkeit der Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens bestanden.