Zur Unkenntnis der Finanzbehörde bei einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO
In dem Urteil v. 14.5.2025 (Az.: VI R 14/22) hat sich der BFH mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen die Finanzbehörde im Rahmen einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO Kenntnis von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen hat. Dabei ist auf diejenigen Personen abzustellen, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisationsmäßig für die Bearbeitung des Steuerfalls berufen sind bzw. die den Steuerbescheid erlassen haben. Die bloße Datenverfügbarkeit ist hingegen nicht ausreichend, um die Kenntnis der Finanzbehörden zu bejahen.
Steuerlicher Hintergrund:
Eine Steuerfestsetzung ist nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Die Festsetzungsfrist beträgt für die Einkommensteuer grundsätzlich vier Jahre, § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO. Für den Fall einer Steuerhinterziehung beträgt die Festsetzungsfrist hingegen 10 Jahre, soweit die Steuer leichtfertig verkürzt wurde fünf Jahre, § 169 Abs. 2 Satz 2 AO. Gemäß § 170 Abs. 1 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist. Ist eine Steuererklärung einzureichen, beginnt die Festsetzungsfrist abweichend mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).
Damit ist für die Frage der Festsetzungsverjährung nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO entscheidend, ob eine Steuerhinterziehung oder zumindest eine leichtfertige Steuerverkürzung (§ 378 AO) vorliegt oder nicht.
Nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO begeht eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen, wer vorsätzlich die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt. Vorliegend war zu klären, ob ein tatbestandsmäßiges In-Unkenntnis-Lassen vorliegt, obwohl die erforderlichen (elektronische) Daten – die zwar nicht automatisch zur Papierakte/elektronischen Akte gelangt sind – abrufbar auf Datenspeichern der Finanzbehörde lagen.
Sachverhalt:
Bei den Klägern, ein zusammenveranlagtes Ehepaar, erzielte bis einschließlich 2008 lediglich der Ehemann Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit und reichte regelmäßig Einkommensteuererklärungen ein, weshalb das Finanzamt den Fall als Antragsveranlagung gespeichert hatte. Ab 2009 bezog auch die Ehefrau Arbeitslohn, wobei die Steuerklassenkombination III (Kläger)/V (Klägerin) gewählt wurde. Für die Streitjahre 2009 und 2010 reichten die Kläger keine Steuererklärungen ein. Der Steuerfall blieb beim Finanzamt als Antragsveranlagung gespeichert, sodass auch keine Aufforderung zur Abgabe der Einkommensteuererklärungen durch das Finanzamt erlassen wurde. Die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen wurden zwar von den Arbeitgebern an die Finanzverwaltung übermittelt und unter der Steuernummer der Kläger im Datenverarbeitungssystem erfasst, gelangten jedoch nicht automatisch in die Papier- bzw. elektronische Akte. Erst Anfang 2018 fiel durch eine von der OFD übersandte eDaten-Prüfliste auf, dass aufgrund der Steuerklassenwahl eine Pflichtveranlagung bestanden hätte. Das Finanzamt erließ daraufhin Schätzungsbescheide und setzte Verspätungszuschläge fest. Die Kläger machten hiergegen geltend, dass bereits Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Demgegenüber ging das Finanzamt von einer verlängerten Festsetzungsfrist wegen vollendeter Steuerhinterziehung aus. Der anschließenden Klage gab das FG Münster (Urteil vom 24.06.2022 – 4 K 135/19 E) statt und nahm an, dass die Behörde aufgrund der abrufbaren Daten bereits Kenntnis gehabt habe. Die Festsetzungsfrist sei daher abgelaufen.
Entscheidung des BFH:
Der BFH hob die Entscheidung des FG auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung zurück. Die Kläger waren gemäß § 149 Abs. 1 Satz 1 AO und § 25 Abs. 3 EStG i.V.m. § 56 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStDV sowie § 46 Abs. 2 Nr. 3a EStG für die Streitjahre zur Abgabe von Steuererklärungen verpflichtet. Die reguläre Festsetzungsfrist begann für das Streitjahr 2009 mit Ablauf des 31.12.2012 und für das Streitjahr 2010 mit Ablauf des 31.12.2013 und endete grundsätzlich am 31.12.2016 bzw. 31.12.2017. Eine Verlängerung der Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO kommt jedoch in Betracht, wenn eine Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt.
Zur Beantwortung der Frage, ob die Finanzbehörde Kenntnis von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen hatte, ist auf diejenigen Personen abzustellen, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisationsmäßig für die Bearbeitung des Steuerfalls berufen sind bzw. die den Steuerbescheid erlassen haben (vgl. auch BGH, Urteil vom 19.10.1999 – 5 StR 178/99). Die Finanzbehörde muss sich den gesamten Inhalt der bei ihr geführten Papierakten sowie der elektronischen Akte als bekannt zurechnen lassen. Bekannt sind auch Informationen, die dem Sachbearbeiter über elektronische Informationssysteme automatisch zur Verfügung gestellt werden – unabhängig von der individuellen Kenntnis. Nicht bekannt sind hingegen elektronische Daten, die lediglich auf abrufbaren Datenspeichern der Finanzbehörde liegen und nicht automatisch zur Akte gelangen. Dies gilt selbst dann, wenn die Daten mit der Steuernummer verknüpft sind. Diese Differenzierung folgt aus dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG i.V.m. § 1 StGB.
Im Streitfall war der Steuerfall der Kläger weiterhin als Antragsveranlagung gespeichert. Die elektronischen Lohnsteuerdaten waren zwar technisch abrufbar, wurden aber nicht automatisch in die Akte übernommen. Für den Bearbeiter bestand daher keine Veranlassung zur Einsicht in den Datenspeicher. Kenntnis von den steuerlich relevanten Tatsachen erlangte der zuständige Bearbeiter erst Anfang 2018 durch die eDaten-Prüfliste der OFD. Das FG ist somit von unzutreffenden rechtlichen Maßstäben ausgegangen und hat keine Feststellungen zum subjektiven Tatbestand des § 370 AO bzw. zur leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) getroffen. Diese sind im zweiten Rechtsgang nachzuholen.
Einordnung:
Die Entscheidung des BFH konkretisiert die Anforderungen an die Kenntnis der Finanzbehörde im Rahmen des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO und bestätigt die bisherige Rechtsprechungslinie. Die bloße technische Abrufbarkeit elektronischer Daten genügt nicht, um eine Kenntnis der Finanzbehörde zu begründen. Maßgeblich ist, ob die Daten automatisch zur Akte gelangen oder dem zuständigen Bearbeiter aktiv zur Verfügung gestellt werden. Damit bleibt es bei dem Grundsatz, dass nur solche Informationen als bekannt gelten, die sich in der Akte befinden oder dem Bearbeiter systemseitig zugeleitet wurden.
Bemerkenswert ist, dass der BFH die dogmatisch umstrittene Frage, ob ein In-Unkenntnis-Lassen bereits durch die pflichtwidrige Nichtabgabe der Steuererklärung erfüllt ist oder ob zusätzlich die tatsächliche Unkenntnis der Behörde erforderlich ist, ausdrücklich offenlässt. Der Senat konnte dies dahinstehen lassen, da im konkreten Fall jedenfalls keine Kenntnis der Behörde vorlag. Damit bleibt die Diskussion um ein mögliches ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal offen. Für die Praxis bedeutet dies, dass die Verteidigung in Steuerstrafverfahren weiterhin sorgfältig prüfen muss, ob und wann die zuständige Stelle innerhalb der Finanzverwaltung tatsächlich Kenntnis von den steuerlich erheblichen Tatsachen erlangt hat.







