Vorläufige Sicherstellung von Verteidigerunterlagen nach § 110 StPO
Der § 110 StPO ermöglicht den Ermittlungsbehörden die Durchsicht von Unterlagen des Beschuldigten bei einer Durchsuchung. Bei der Durchsicht von digitaler oder Papier-Korrespondenz gem. § 110 StPO handelt es sich um eine Vorfeldmaßnahme der Beschlagnahme, deren Zweck es ist, herauszufinden, ob die Voraussetzungen für eine Beschlagnahme überhaupt vorliegen. Das LG Köln musste sich in einer aktuellen Entscheidung vom 31.1.2024 (Az.: 118 Qs 12/23) mit der Frage befassen, ob (möglicherweise) beschlagnahmefreie Verteidigerunterlagen vor Ort durchgesehen werden müssen oder diese zur Durchsicht von den Ermittlungsbehörden mitgenommen werden können.
Sachverhalt:
Gegen die Beschuldigte läuft ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung im besonders schweren Fall in einem Cum/Ex-Verfahren. In diesem Zusammenhang kam es zu einer Durchsuchung der von der Beschuldigten genutzten Wohnräume. Im Rahmen der Durchsuchung wurde u.a. eine Sammlung von mehreren Schriftstücken, die sich sämtlich in einer Klarsichthülle befanden, zum Zwecke der Durchsicht gem. § 110 StPO vorläufig sichergestellt. Auf den vorläufig sichergestellten Seiten war teilweise der Briefkopf der Verteidigerin erkennbar und teilweise handelte es sich um Verteidigerkommunikation. Bei den übrigen Unterlagen handelte es sich um für das Verfahren nicht beweiserhebliche Papiere.
Die anwesende Verteidigerin der Beschuldigten wies die anwesende Staatsanwältin wiederholt darauf hin, dass es sich bei den Unterlagen um beschlagnahmefreie Verteidigerunterlagen handele. Gleichzeitig bat sie darum, die Unterlagen bereits am Ort der Durchsuchung zu sichten. Dies lehnte die Staatsanwältin mit Hinweis auf weitere dienstliche Pflichten im Rahmen der Durchsuchung ab und ordnete stattdessen die vorläufige Sicherstellung und Mitnahme des Unterlagenkonvoluts zur Durchsicht an. Die Verteidigerin widersprach der vorläufigen Sicherstellung und Mitnahme.
Entscheidungsgründe:
Das LG stellt in seiner Entscheidung klar, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Unterlagen vorläufig sicherzustellen und zur Durchsicht mitzunehmen, ermessensfehlerhaft war; sie habe nicht hinreichend konkret klargestellt, welche Umstände eine Durchsicht vor Ort unmöglich erscheinen ließen. Liegen Anzeichen dafür vor, dass es sich bei den zu sichtenden Papieren um beschlagnahmefreie Verteidigerunterlagen handelt, obliegt es der Staatsanwaltschaft, wenn möglich die Durchsicht der Unterlagen vor Ort vorzunehmen. Dies gebiete schon das Gebot des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens und das Interesse der Beschuldigten an einer offenen und vertrauensvollen Kommunikation zu seiner Verteidigerin. Dass eine Situation vorlag, die der Durchführung der Durchsicht am Ort der Durchsuchung entgegengestanden habe, wurde von der Staatsanwaltschaft nicht hinreichend dargelegt. Im Hinblick auf die Eingriffsqualität der Maßnahme und des unstreitigen Hinweises der Verteidigerin auf die Beschlagnahmefreiheit der Unterlagen bedurfte es einer umfassenden und nachvollziehbaren Darlegung der Umstände durch die Staatsanwaltschaft, die einer Durchsicht vor Ort entgegenstanden. Stellt die Staatsanwaltschaft dies nicht hinreichend konkret dar, ist im Zweifel vom Regelfall auszugehen, dass eine Durchsicht vor Ort möglich gewesen wäre; sonst liefe ein hier ohnehin nur nachträglich zu gewährender Grundrechtsschutz faktisch leer.
Steuerstrafrechtliche Einordnung:
Die Durchsicht von digitaler oder Papier-Korrespondenz gem. § 110 StPO bei einer Durchsuchung ist eine in der steuerstrafrechtlichen Praxis des Öfteren anzutreffende Maßnahme. Schließlich erfolgt eine Durchsuchung von Wohn- und/oder Geschäftsräumen häufig mit dem Ziel der Beschlagnahme von steuerlich relevanten Geschäftsunterlagen. Die sog. Verteidigungsunterlagen dürfen jedoch gem. § 97 Abs. 1, § 148 StPO nicht beschlagnahmt werden. Dies ist Ausdruck des Rechts auf effektive Verteidigung als Ausprägung des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 3 EMRK und Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), vgl. zu der Thematik der beschlagnahmefreien Verteidigungsunterlagen ausführlich Paradissis, NStZ 2023, 449. Stoßen die Ermittlungsbehörden im Rahmen der Durchsuchung daher auf Unterlagen, die offensichtlich einem Beschlagnahmeverbot nach § 97 Abs. 1, § 148 StPO unterliegen, ist deren Durchsicht unzulässig; die Unterlagen müssen sofort wieder herausgegeben werden, vgl. Hauschild, in: MüKo StPO, 2. Aufl. 2023, § 110 Rz. 13 m.w.N.
Das LG Köln hat in dem vorliegenden Fall entschieden, dass die Papiere der Beschuldigten in der Klarsichtfolie nicht „offensichtlich“ der beschlagnahmefreien Verteidigerkommunikation zuzuordnen waren, vgl. zurecht kritisch dazu Oesterle, wistra 2024, 186, 187. Allerdings erlegt das Gericht den Ermittlungsbehörden eine besondere Begründungslast auf, wenn es die Unterlagen zur Durchsicht mitnehmen möchte; dabei geht es davon aus, dass der Regelfall eine Durchsicht vor Ort sei. Diese Überlegung des Landgerichts ist sicherlich auch über den entschiedenen Sachverhalt hinaus anwendbar und kann von Strafverteidigern in der Praxis herangeführt werden, wenn sich eine Mitnahme von Unterlagen zur Durchsicht abzeichnet.
Praxishinweis:
Es ist unbedingt anzuraten, dass Betroffene im Falle einer Durchsuchung einen Strafverteidiger hinzuzuziehen, damit dieser darauf achten kann, dass die Beschlagnahmeverbote nach § 97 Abs. 1 StPO, § 148 StPO beachtet werden. Kommt es dennoch zur Mitnahme von beschlagnahmefreier digitaler oder Papier-Korrespondenz, sollte dieser Maßnahme widersprochen werden. In einer gerichtlichen Auseinandersetzung über die Rechtmäßigkeit der Mitnahme kann die Besprechungsentscheidung des LG Kölns herangeführt werden. Beachtenswert sind ferner die aktuellen Überlegungen von Oesterle mit Blick auf die prinzipielle Zulässigkeit der Durchsicht von Verteidigungsunterlagen, vgl. Oesterle, wistra 2024, 186.