Verlängerung der Zugangsvermutung zum 1.1.2025 – Gilt die Vermutung der Bekanntgabe weiterhin als Frist im Sinne des § 108 Abs. 3 AO?
Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur Modernisierung des Postrechts vom 15.7.2024 (PostModG, BGBl. 2024 I Nr. 236) die Brieflaufzeiten verlängert und in diesem Zusammenhang auch die gesetzlichen Bekanntgabe-Vermutungen u.a. in der AO (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 2a, § 122a Abs. 4 Satz 1 und § 123 Satz 2 AO) und im VwZG angepasst. Verwaltungsakte gelten nunmehr nicht mehr am dritten, sondern erst am vierten Tag als bekannt gegeben. Die Änderungen treten zum 1.1.2025 in Kraft. Die geänderten Vorschriften sind auf alle Verwaltungsakte anzuwenden, die nach dem 31.12.2024 zur Post gehen, elektronisch übermittelt oder elektronisch zum Abruf bereitgestellt werden.
Vermutung der Bekanntgabe als Frist im Sinne des § 108 Abs. 3 AO
Nach Ansicht des BFH ist der Drei-Tages-Zeitraum des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO a.F. eine Frist im Sinne des § 108 Abs. 3 AO. Fällt das Fristende auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend fällt, verlängert sich die Drei-Tages-Frist bis zum nächstfolgenden Werktag, vgl. BFH-Urt. IX R 68/98 v. 14.10.2003, BStBl. 2003 II, 898; BFH-Beschl. III B 85/13 v. 5.5.2014, BFH/NV 2014, 1186. Die Rechtsprechung zu dieser Frage ist rechtsgebietsübergreifend jedoch uneinheitlich: Die Verwaltungsgerichte und das BSG behandeln die Bekanntgabefiktion nicht als Frist und verneinen daher die Anwendung der Samstags-, Sonntags- bzw., Feiertagsregelung sowie eine entsprechende Verlängerung in den jeweiligen Verfahrensordnungen, vgl. die Nachweise bei Achsnich, in: BeckOK AO, § 108 Rz. 145.1 (Stand: Oktober 2024).
Beispiel: Ein Bescheid, der am Mittwoch zur Post gegeben wird, würde nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO a.F. am Sonnabend als bekannt gegeben gelten. Durch die Neuregelung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO verlängert sich die Zugangsvermutung nun dahingehend, dass die Vermutung der Bekanntgabe auf den Sonntag fällt. Nach der Rechtsprechung des BFH gilt der Bescheid jedoch wegen § 108 Abs. 3 AO erst am Montag als bekannt gegeben. Erst an diesem Tag beginnt die Rechtsbehelfsfrist nach § 355 Abs. 1 AO zu laufen.
Pläne zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung im Regierungsentwurf
Im Regierungsentwurf zum PostModG war noch vorgesehen, durch eine gesonderte Vorschrift anzuordnen, dass die nach der Rechtsprechung des BFH einschlägige Fristenregelung des § 108 Abs. 3 AO künftig nicht mehr anzuwenden sein sollte. Zudem sollte bei der Fristberechnung nicht mehr auf Kalendertage, sondern auf Werktage abgestellt werden. Dadurch sollte die Rechtslage in den unterschiedlichen Verwaltungsverfahrensordnungen wieder vereinheitlicht werden, vgl. BT-Drs. 677/23, S. 178. Auf Kritik u.a. des Bundesrats und des DStV wurde davon jedoch wieder Abstand genommen, vgl. BT-Drs. 20/11817, S. 114, 142.
Vereinzelt wird in der Literatur dennoch angenommen, dass die bisherige – oben dargestellte – Auffassung des BFH aufgrund der Äußerungen des Gesetzgebers nicht mehr haltbar sei, vgl. Gruber, DStR 2024, 2883. Dies hätte zur Folge, dass fortan auch eine Bekanntgabe an Samstagen, Sonntagen und Feiertagen möglich wäre.
Diese Auffassung überzeugt allerdings nicht. Der Gesetzgeber hat mit der Abstandnahme von seinen ursprünglichen Plänen im Regierungsentwurf zum Ausdruck gebracht, die Rechtslage nicht ändern zu wollen, vgl. auch die überwiegende Ansicht in der Literatur Claussen, NWB 2025, 90, 92; Rüsch, DB 2024, 2253, 2256; Jesse, FR 2024, 1061, 1066.
Trotz der vereinzelt geäußerten Bedenken ist davon auszugehen, dass auch hinsichtlich der Neuregelung der Zugangsvermutungen der § 108 Abs. 3 AO weiter gilt. Die Finanzverwaltung geht im Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) jedenfalls davon aus, dass die BFH-Rechtsprechung zur Anwendbarkeit von § 108 Abs. 3 AO auf die Bekanntgabe-Vermutungen weiterhin Anwendung findet, vgl. Nr. 2 AEAO zu § 108.
Praxishinweis
Die Neuregelung der Zugangsvermutung wird nicht dazu führen, dass Streitigkeiten über den Zugangszeitpunkt in Zukunft ausbleiben, vgl. zu Beispielen aus der jüngeren Rspr. Rüsch, DB 2024, 2253, 2256 f. Bisherige Zweifelsfragen für die Bedeutung und Reichweite der Bekanntgabe-Vermutung bestehen unverändert fort, vgl. Jesse, FR 2024, 1061, 1070.
Im Übrigen gilt für die Beratungspraxis, was auch bislang galt: Um Haftungsfälle zu vermeiden, sollten Rechtsbehelfe – wenn möglich – ohnehin nicht erst am letzten Tag der berechneten Frist eingelegt werden.
Hinzuweisen ist ferner darauf, dass die Vermutungswirkung nicht greift, wenn der Verwaltungsakt nicht oder erst nach mehr als vier Tagen zugeht. Grundsätzlich liegt die Beweislast für den Zugang des Verwaltungsakts bei der Finanzbehörde. Die Rechtsprechung unterscheidet hinsichtlich des Beweismaßes in Teilen zwischen einem späteren und überhaupt keinem Zugang beim Steuerpflichtigen. Bei einem späteren Zugang des Verwaltungsakts muss der Steuerpflichtige durch substantiierten Vortrag Zweifel an der (fristgerechten) Zugangsvermutung begründen, vgl. Müller-Franken, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 122 Rz. 389 mwN. Das bloße Behaupten des späteren Zugangs ist nicht ausreichend, vgl. Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 122 AO Rz. 59 f. (Stand: November 2021).
