Steuerhinterziehung im großen Ausmaß bei evident untauglichem Versuch – BGH-Beschl. 1 StR 68/24 v. 25.7.2024
Der BGH hat in dem Beschluss 1 StR 68/24 vom 25.7.2024 festgestellt, dass die Indizwirkung des Regelbeispiels der Steuervorteilserlangung im großen Ausmaß gemäß § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO entkräftet werden kann, wenn der geständige und nicht vorbestrafte Angeklagte den evident untauglichen Versuch unternimmt, die Auszahlung eines fingierten Vorsteuerguthabens im zweistelligen Millionenbereich ohne die Erklärung eigener Ausgangsumsätze zu erreichen.
Steuerhinterziehung im großen Ausmaß
Die „einfache“ Steuerhinterziehung wird gemäß § 370 Abs. 1 AO mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Der § 370 Abs. 3 AO verschärft diesen Strafrahmen für „besonders schwere Fälle“. Bei Vorliegen eines besonders schweren Falls, kann eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren verhängt werden. Eine Geldstrafe ist damit ausgeschlossen.
§ 370 Abs. 3 Satz 2 AO enthält in den Nr. 1 bis 6 Beispiele, bei denen der Gesetzgeber davon ausgeht, dass ein besonders schwerer Fall „in der Regel“ vorliegt. Nach § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO liegt ein besonders schwerer Fall in der Regel vor, wenn der Täter in großem Ausmaß Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt. Nach der Rechtsprechung des BGH ist von einer Steuerhinterziehung im großen Ausmaß bereits dann auszugehen, wenn der Hinterziehungsbetrag 50.000 € übersteigt, vgl. BGH-Urt. 1 StR 373/15 v. 27.10.2015, BGHSt 61, 28.
Jedoch ist das Gericht nicht verpflichtet, bei Verwirklichung eines Regelbeispiels einen besonders schweren Fall anzunehmen und den Strafrahmen zu verschärfen. Die Indizwirkung des Regelbeispiels kann wegen der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles entkräftet werden. So auch in der Entscheidung des BGH 1 StR 68/24 vom 25.7.2024.
Entscheidung des BGH:
Der Angeklagte hatte versucht, die Auszahlung eines fingierten Vorsteuerguthabens im zweistelligen Millionenbereich zu erreichen, ohne eigene Ausgangsumsätze zu erklären. Eine Auszahlung des Vorsteuerguthabens erfolgte nicht. Aufgrund der beim Finanzamt eingerichteten Sicherheitsvorkehrungen drohte eine Auszahlung von Geldern zu keinem Zeitpunkt (evident untauglicher Versuch).
Die Vorinstanz – das LG Oldenburg – hat den Angeklagten wegen versuchter Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Dabei ist es davon ausgegangen, dass der erhöhte Strafrahmen nach § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO (Steuervorteilserlangung im großen Ausmaß) zur Anwendung kommt. Innerhalb dieses Strafrahmens brachte das LG die fakultativen Strafmilderungsgründe der §§ 23, 49 StGB in Abzug und berücksichtigte ferner allgemeine Strafmilderungsgründe (das weitgehende Geständnis des Angeklagten und die Ermangelung von Vorstrafen).
Der BGH hob die Entscheidung im Strafausspruch auf und wies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des LG Oldenburg zurück. Angesichts der Besonderheiten des Falles sei sowohl die Strafrahmenwahl als auch die Strafzumessung durchgreifend fehlerhaft. Das LG habe die gebotene Prüfreihenfolge bei der Strafrahmenwahl und Strafzumessung verkannt:
- Das LG hätte bei der Strafrahmenwahl zunächst prüfen müssen, ob das Geständnis des – nicht vorbestraften – Angeklagten die Indizwirkung des Regelbeispiels nach § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO hätte entkräften können.
- Erst danach hätte das LG zusätzlich den Strafmilderungsgrund des Versuchs (§§ 23, 49 StGB) in die Abwägung einstellen müssen.
- Bei der Strafzumessung (im engeren Sinne) sei ferner zu berücksichtigen, dass eine Auszahlung von Geldern niemals drohte.
Einordnung:
Das LG hat in der Vorinstanz den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht und verkannt, dass die Indizwirkung des Regelbeispiels wegen der Umstände des Falls entfallen könnte. Ob dies tatsächlich der Fall ist, hat nun eine andere Strafkammer am LG zu prüfen.
Die Entscheidung zeigt, dass die Regelbeispiele in § 370 Abs. 3 AO nicht wie Tatbestandsvoraussetzungen zu prüfen sind; die besonders schweren Fälle sind keine Tatbestands- sondern Strafzumessungsmerkmale. Die Höhe der Steuerverkürzung ist zwar ein bestimmender Strafzumessungsgrund, jedoch kann dieser nicht allein ausschlaggebend sein. Die Strafzumessung richtet sich nach den Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalles. Straferhöhende und strafmindernde Umstände sind in ihrer Bedeutung und ihrem Gewicht gegeneinander abzuwägen, vgl. § 46 Abs. 2 StGB; Jäger, in: Klein, AO, 18. Aufl. 2024, § 370 Rz. 330 ff. Dabei ist die vom BGH aufgezeigte – oben dargestellte – Prüfreihenfolge zu berücksichtigen.
Praxishinweis:
In der Verhandlung sind vom Strafverteidiger alle Umstände vorzutragen, die für eine Milderung der Strafe bzw. für ein Entfallen der Indizwirkung eines Regelbeispiels sprechen. Auf eine Berücksichtigung dieser Umstände durch das Gericht sollte hingewirkt werden. Auch bei der Strafzumessung kann durch einen erfahrenen Steuerstrafverteidiger im Einzelfall noch viel für den Mandanten herausgeholt werden.