Das LG Lübeck hat sich in dem Beschluss 6 Qs 48/23 725 Js 49860/23 vom 16.1.2024 mit den Maßstäben für die verpflichtende Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Steuerhinterziehung nach § 370 AO in einer Kindergeldsache mit grenzüberschreitendem Bezug befasst.
Sachverhalt:
Die Beschuldigte ist Mutter von fünf Kindern. Sie beantragte für jedes ihrer Kinder Kindergeld bei der Familienkasse. Dabei versicherte die Beschuldigte, alle leistungserheblichen Änderungen unverzüglich mitzuteilen. Gleichwohl unterließ es die Beschuldigte mitzuteilen, dass ihr Ehemann und der Kindesvater ab April 2005 in Dänemark erwerbstätig war. Im Jahr 2018 sowie ab 2020 ging die Beschuldigte einer Erwerbstätigkeit in Deutschland nach. Die Familienkasse erfuhr von der Erwerbstätigkeit des Ehemannes erstmals am 22.3.2019 durch die Mitteilung der Beschuldigten vom 25.1.2019. Aufgrund dessen könnte die Beschuldigte insgesamt Kindergeldzahlungen in Höhe von ca. 100.000 Euro zu Unrecht erhalten haben.
Die Staatsanwaltschaft teilte der Beschuldigten den Tatvorwurf der Steuerhinterziehung mit und belehrte sie über die Voraussetzungen der Bestellung eines Pflichtverteidigers. Daraufhin suchte die Beschuldigte eine Rechtsanwältin auf und beantragte die Bestellung dieser Rechtsanwältin zur Pflichtverteidigern. Das AG Lübeck lehnte diesen Antrag ab, gegen den die Beschuldigte sofortige Beschwerde einlegte.
Entscheidungsgründe:
Das LG Lübeck hob den Beschluss des AG Lübeck mit der Begründung auf, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 Var. 3 StPO vorliege. Vorliegend sei zu prüfen, ob sich der Verdacht der Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 AO gegen die Beschuldigte erhärte. Da es sich um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt handele, müsse für die Frage der Steuerhinterziehung auch geklärt werden, welcher Staat vorrangig zur Zahlung von Kindergeld zuständig gewesen wäre. Diese Prüfung erfolgt unter Anwendung der Prioritätsregel nach Art. 68 VO (EG) 883/2004. Die Subsumtion der Rechtslage unter diese Vorschrift im Einzelfall sei schwierig und überfordere einen juristischen Laien regelmäßig, so dass von einer schwierigen Rechtslage auszugehen und die Mitwirkung eines Verteidigers geboten sei. Zudem verwies das Gericht auf einen Beschluss des LG Nürnberg-Fürth, welches in einem vergleichbaren Fall mit einem grenzüberschreitenden Sachverhalt, einen Fall der notwendigen Verteidigung bejahte, vgl. LG Nürnberg-Fürth Beschl. 12 Qs 45/21 v. 23.7.2021, BeckRS 2021, 20061.
Steuerstrafrechtliche Einordnung:
Die Fälle der notwendigen Verteidigung sind in § 140 Abs. 1 und 2 StPO geregelt. In § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 11 StPO sind bestimmte Fälle aufgezählt, bei denen eine notwendige Vertretung vorliegt. Als Generalklausel für die nicht von § 140 Abs. 1 StPO erfassten Fälle sieht § 140 Abs. 2 StPO vor, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung auch vorliegt, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO bereits im Ermittlungsverfahren möglich.
Liegt kein Fall der § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 11 StPO vor, muss das Gericht bei Steuerstrafverfahren mithin u.a. das Tatbestandsmerkmal der „Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage“ prüfen. Schwierig ist die Rechtslage, wenn bei der Anwendung des materiellen oder des formellen Rechts auf den konkreten Sachverhalt bislang nicht ausgetragene Rechtsfragen entschieden werden müssen (vgl. OLG Stuttgart Beschl. 3 Ss 251/01 v. 8.11.2001, BeckRS 2007, 8398) oder wenn nicht abschließend geklärte Rechtsfragen namentlich aus Bereichen außerhalb des Kernstrafrechts entscheidungserheblich sind oder wenn die Subsumtion im Einzelfall problematisch ist (vgl. KG, Beschl. 121 Ss 231/15 v. 9.2.2016, NStZ-RR 2016, 208).
Der Beschluss des LG Lübeck stellt klar, dass bei der Prüfung der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage im Fall eines grenzüberschreitenden Sachverhalts, bei dem es auf verschiedene nationale und europarechtliche Regelungen ankommt, nach § 140 Abs. 2 StPO ein Fall der schwierigen Subsumtion im Einzelfall vorliegt, die einen juristischen Laien regelmäßig überfordern wird. Die Mitwirkung eines Verteidigers war daher in dem entschiedenen Fall geboten.
Weiter gehen einige jüngere Entscheidungen, nach denen ein steuerstrafrechtlicher Vorwurf stets die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage begründet, wenn der Angeklagte nicht nachgewiesenermaßen über Spezialwissen verfügt, vgl. die Nachweise bei Heerspink, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht Kommentar, § 392 AO Rz. 45 (Stand: August 2024); siehe auch Wegner, PStR 2022, 248. In Fällen der Steuerhinterziehung sollte die Möglichkeit daher immer mitbedacht werden, die Beiordnung als Verteidiger im Namen des Mandanten zu beantragen und die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage unter Verweis auf die dargestellte Rechtsprechung darzulegen.
Verfasst von:
Stefan Engels
Rechtsanwalt