Anspruch auf den gesetzlichen Richter bei Durchführung der Verhandlung im Wege der Videokonferenz
Der BFH hat sich in seiner Entscheidung V B 13/22 vom 30.6.2023 zu der Frage geäußert, wie in digital (per Videokonferenz) durchgeführten mündlichen Verhandlungen nach § 91a Abs. 1 FGO das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 1 GG zu gewährleisten ist. Die Entscheidung zeigt eindrucksvoll, dass auch die Digitalisierung des Gerichtsprozesses nicht zu rechtstaatlichen Einbußen führen darf.
Sachverhalt:
Die Parteien stritten sich materiell-rechtlich in erster Instanz vor dem FG Münster um die Zuordnung von Einkünften zur Vermögensverwaltung, dem Zweckbetrieb oder wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb des gemeinnützigen Klägers. Die mündliche Verhandlung wurde gemäß § 91a Abs. 1 Satz 1 FGO per Videokonferenz durchgeführt. Am Ende der Verhandlung gab das FG der Klage teilweise statt und wies sie im Übrigen ab.
Der Kläger legte gegen die erstinstanzliche Entscheidung Nichtzulassungsbeschwerde ein und trug vor, das verwendete Kamerasystem habe ihn in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter aus § 119 Nr. 1 FGO i.V.m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Das FG habe nur eine Kamera eingesetzt, wodurch entweder die Gesamtbesetzung des Senats oder nur ein Teil seiner Besetzung oder aber nur derjenige Richter, der aktuell das Wort geführt habe, zu sehen gewesen sei. Insgesamt sei für zwei Drittel der Dauer der mündlichen Verhandlung allein der Vorsitzende Richter des Senats im Bild gewesen. Die Richterbank mit den übrigen Richtern und der aktuell sprechende Richter seien nie gleichzeitig zu sehen gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der BFH sah die Nichtzulassungsbeschwerde als begründet an und verwies den Rechtsstreit zurück an das FG. Da für die Parteien des Rechtsstreits nicht alle zur Entscheidung berufenen Richter während der „Videokonferenz“ sichtbar waren, ist der Kläger in seinem Anspruch auf die vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts im Sinne des § 119 Nr. 1 FGO i.V.m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.
Die Durchführung der Verhandlung im Wege der Videokonferenz nach § 91a Abs. 1 FGO darf nicht dazu führen, dass es zu einem Verlust an rechtstaatlicher Qualität – im Vergleich zu einer Verhandlung in Präsenz – kommt. Auch bei einer Teilnahme per Videokonferenz muss für die Parteien feststellbar sein, ob die beteiligten Richter körperlich und geistig in der Lage sind, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen oder ob einer oder mehrere von ihnen während der Verhandlung eingeschlafen ist oder sind, erst verspätet auf der Richterbank Platz genommen oder diese vorübergehend oder vorzeitig verlassen hat oder haben. Es liegt daher in der Organisation des Gerichts, zu gewährleisten, dass die zugeschalteten Prozessbeteiligten alle Richter sehen und hören können. Im Streitfall war diese Anforderung nicht gewahrt, weil für den überwiegenden Zeitraum der mündlichen Verhandlung nur der Vorsitzende Richter des Senats im Bild zu sehen war.
Der vom BFH festgestellte Verfahrensmangel konnte auch nicht mehr nach § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 295 ZPO geheilt werden. Auf die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts (§ 119 Nr. 1 FGO) kann nach § 295 Abs. 2 ZPO nicht wirksam verzichtet werden. Es handelt sich um eine zwingende Grundnorm des Verfahrensrechts, deren Einhaltung im öffentlichen Interesse liegt. Ein Rügeverlust kann nur eintreten, wenn der Hinweis an das Gericht treu- und pflichtwidrig unterlassen wurde, um sich einen absoluten Revisionsgrund im Falle des Unterliegens zu verschaffen – im Streitfall bestanden dafür keine Anhaltspunkte. In der mündlichen Verhandlung in erster Instanz musste demnach die fehlende Bildübertragung der Richterbank zur Überprüfung des Verhaltens eines Richters nicht gerügt werden.
Praxishinweis:
Die höchstrichterliche Entscheidung des BFH kann Wirkkraft über die Grenzen des finanzgerichtlichen Verfahrens hinaus entfalten. Sie bietet für die anderen Verfahrensordnungen, in denen eine virtuelle Verhandlung möglich ist (vgl. etwa § 128a ZPO für den Zivilprozess; § 102a VwGO für das verwaltungsgerichtliche Verfahren), eine Grundlage, die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts bzw. das Recht auf Verletzung des gesetzlichen Richters zu rügen, wenn die Beteiligten die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts und damit die Anwesenheit aller Mitglieder des Spruchkörpers nicht überprüfen können.
Die Praxis einiger Gerichte, bei denen in der Verhandlung per Videokonferenz mit nur einer Kamera zwischen den Richtern des Kollegialspruchkörpers hin- und her geschaltet wird, birgt infolge der Entscheidung des BFH das immanente Risiko einer Entscheidungsaufhebung im weiteren Verfahrensgang – bei Entscheidungsaufhebung und Zurückverweisung an denselben Senat wird es aber in der Regel zu keiner anderen Entscheidung in der Sache kommen. Zwar äußert sich der BFH – in Bezug auf den entschiedenen Fall – nur dahingehend, dass das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt ist, wenn für den „überwiegenden Zeitraum“ der mündlichen Verhandlung nur der Vorsitzende Richter des Senats im Bild zu sehen ist. Gleichwohl lässt sich den Entscheidungsgründen entnehmen, dass die durchgängige bildliche Übertragung der vollständigen Richterbank mit allen zur Entscheidung berufenen Richtern notwendig ist. Dies würde wohl das Aus der „Ein-Kamera-Systeme“ bedeuten und eine weitergehende Ausstattung von einzelnen Gerichtssälen erforderlich machen.
Die weitere Entwicklung zu dieser Rechtsfrage, insbesondere in den anderen Verfahrensordnungen, bleibt zu beobachten. Generell gilt: Die Möglichkeit der Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung im Wege der Videokonferenz ist freiwillig und liegt im Ermessen der jeweiligen Partei. Dies gilt weiterhin für die in einem aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehene Möglichkeit des Gerichts, eine Videoverhandlung verpflichtend anzuordnen (vgl. § 128a Abs. 2 Satz 1 ZPO-E). Mit einem – nicht notwendigerweise zu begründenden – Einspruch, kann die verpflichtende Anordnung der Videoverhandlung aufgehoben werden, vgl. BR-Drs. 228/23, S. 24. Bevor man an einer digitalen Verhandlung teilnimmt, ist daher das „Für“ und „Wider“ einer solchen Verhandlungsform abzuwägen. Dabei ist die Kameraeinstellung nicht der einzige Aspekt, den es zu beachten gilt.
Verfasst von:
Vivienne Paschmanns, LL.M.
Dipl. Finanzwirtin (FH), Steuerberaterin